Der Kern des Problems liegt in der Hervorbringung von
Menschen, an denen wir drei Parameter feststellen können, bei aller
Unterschiedlichkeit:
Ihr eigenes, oft junges, keineswegs stets
"objektiv" verzweifeltes Leben muss so unlebbar geworden sein, dass
es nur beendet werden kann. Für so etwas gibt es sehr viele, sehr
unterschiedliche Gründe.
Diese Erkenntnis des unlebbaren Lebens muss sich verbinden
mit einem grenzenlosen Hass auf das gelebte Leben der anderen. Was vernichtet
werden muss, ist Leben, das Lust, Hoffnung, Zukunft und Kommunikation in sich
trägt.
Für das Beenden des eigenen Lebens und die Vernichtung von
möglichst vielen unschuldigen Menschenleben, den Genuss des Leidens der anderen
im eigenen Sterben, muss es eine Legitimation, irgendeine Form von Begriff,
Idee oder Metaphysik geben. Vorbilder (wie in diesem Fall Dramaturgien von
anderen Amokläufen), Begleitungen (die dschihadistischen Gesänge, der Nazirock)
und Bilder (der bewaffnete Männerkörper im Augenblick des flammenden Infernos
etc.). Die persönliche Rache gehört genauso dazu, wie es eine rigoros codierte
Erlösungsreligion sein kann oder die Wiederherstellung einer mythischen Rassen-
oder Volksgemeinschaft.
Entscheidend ist dabei wohl, dass sich die drei Elemente
miteinander verbinden. Jede terroristische Biografie bildet sich aus eigenen,
unberechenbaren Verbindungen; ohne alle diese Elemente wird man wohl kaum einen
Selbstmordattentäter finden; ihre Verknüpfung kann sich über einen längeren
Zeitraum abspielen, aber auch in kurzer Zeit zur Zündung gelangen. Der Angriff
eines Terroristen oder Amokläufer richtet sich also nie wirklich gegen einen
"Feind", sondern gegen das Leben, das ihm selbst verwehrt ist ... Terror
macht böse. Es war eine große, wichtige Geste, mit der der französische Autor
Antoine Leiris 2015 den Attentätern entgegen hielt: "Meinen Hass bekommt ihr nicht". Es ist wirklich
sehr schwer zu sagen, wie viele Menschen dazu fähig sind. Angesichts der Toten
nicht zu hassen hat etwas schier Übermenschliches an sich ... Es ist nötig, aus
der rauschhaften Erfahrung einer Gemeinsamkeit in der Katastrophe ein
gesellschaftliches Projekt zu formen. Dass jede Tat in sich unsagbar und
unerklärbar ist, bedeutet nicht, dass sie keine Vorgeschichte, keine Umstände,
keine Verstärkungen und Bestätigungen, keine Begleitumstände und keine
freiwilligen oder unfreiwilligen Mittäter hätte ... Niemand kann eine
Katastrophe verhindern, denn es gibt kein System, das immun gegen Angriffe und
immun gegen innere Widersprüche sei. Eines der großen Versprechen der
Demokratie allerdings war es, dass es nicht nur ein anpassungsfähiges, sondern
auch ein lernendes System sei, eines, das immer mehr Bewusstsein von sich und
der Welt hat, kurzum, dass es zugleich Garant von Freiheiten und Instrument der
Aufklärung sei ... Wir können nicht verhindern, dass soziale, politische und
menschliche Katastrophen geschehen. Aber wir können verhindern, dass sie zum
unaufgeklärten, unverstandenen, medialisierten, ideologisch manipulierten,
politisch und ökonomisch missbrauchten Normalfall werden.
Auszüge aus einem Artikel von Georg Seeßlen, Kulturjournalist:
www.zeit.de/kultur/2016-07/amoklauf-muenchen-terror-medien-sprachlosigkeit-essay/komplettansicht