20.08.2012

Demokratie von unten oder von oben – von wem und für wen?


In den „… am 22. April 2012 auf dem 63. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP beschlossenen »Karlsruher Freiheitsthesen« … heißt es: Da Verwaltung und Staatshaushalt mit der »Zuständigkeit für alle gesellschaftlichen Problemlösungen« überfordert seien und der Staat an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit stoße, sollen die neuen »Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Partizipation« als »Chancen der digitalen Gesellschaft für vernetzte politische Problemlösung« entfaltet, die in den Bundesländern bereits erprobten Verfahren der Bürgerbeteiligung »ausgebaut und verbessert« sowie Volksbegehren und Volksentscheide auch auf der Bundesebene eingeführt werden. Gebraucht werde »eine neue Arbeitsteilung zwischen Staat, Markt, Zivilgesellschaft und Bürgern« … Auf diese Weise ließen sich die Bürger besser in ökonomisch geforderte Strukturanpassungen einbinden, denn Partizipation »schafft ein Verständnis für die Komplexität der Realität und dämpft überzogene Erwartungen« … bereitet die Einführung von mehr direkter Bürgerbeteiligung auch auf der Bundesebene den Weg »zu einer noch besseren Regierungsführung«. Die Mittelschicht müsse sich selbst zu Wort melden und dabei von herkömmlichen Demonstrationen, über den Flashmob, Mailingaktionen und Guerillamarketing auf das gesamte Repertoire der heute zur Verfügung stehenden Protestmittel zurückgreifen, um zu verhindern, »daß Politik vor allem auch auf ihre Kosten gemacht wird« … Aufgabe verantwortlicher Politik sei es, … »die Frustration und den Protest zu kanalisieren, zu organisieren und konstruktiv zu gestalten«, um auf diese Weise »wieder handlungsfähig« zu werden. Denn: »Je früher man miteinander spricht, desto größer ist die Chance auf eine Einigung, da weniger Porzellan im voraus zerschlagen wurde«. Ein erwünschter Nebeneffekt ist die Kostenersparnis für beteiligte Privatunternehmen und die öffentliche Hand, die nicht zuletzt durch die Verbesserungsvorschläge von sogenannten Bürgerexperten erreicht werden kann … Dabei geht es jedoch nicht um die Überwindung von Herrschaft, sondern darum, das Handeln sogenannter Entscheidungsträger zu effektivieren und besser zu legitimeren. Teilhabe der Bürger ist in der politischen Mediation kaum mehr als ein Mittel zum Zweck: eine neue, ausgefeilte Spielart sozialtechnologischer Herrschaft. Sie fingiert die Selbstorganisation der aktivierten Bürger, die aber schon deshalb keine echte Selbstbestimmung ist, weil die Waffengleichheit der Kontrahenten schon in formaler Hinsicht gar nicht angestrebt wird. Denn egal was bei einer politischen Mediation vereinbart wird: Eine politisch bindende Entscheidung ist damit nicht verbunden.“
Aus einem Artikel von Thomas Wagner auf: www.jungewelt.de/2012/08-20/003.php
Die Gegentendenz:
„Die parlamentarische Demokratie ist zweifellos eine zivilisatorische Errungenschaft. Umso erstaunlicher, dass immer mehr Autoren aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft diese Staatsform als nicht mehr realitätstauglich ad acta zu legen bereit sind … »Abgesang auf ein gescheitertes System« … dass Entscheidungen im althergebrachten Sinne nicht mehr möglich sind, wenn ständig verhandelt und nachverhandelt wird … die klassische Perspektive jener Eliten …, für die Demokratie nicht auf die Selbstregierung der Mehrheit zielt, sondern vor allem Herrschaftstechnik ist. Diese beurteilen sie nach Effektivitätskriterien. Hier fügt sich nahtlos ein, … der gewöhnliche Bürger bewege sich in Fragen des öffentlichen Wohls »zwangsläufig auf niederem Kompetenzniveau« …
Demokratie ist kein Gegenstand, dessen Funktionsbeschreibung ein für allemal unverrückbar feststeht, sondern ein politischer Begriff, dessen Bedeutung in politischen Kämpfen entstanden ist und dessen Inhalt je nach Interessenlage unterschiedlich interpretiert wird … Demokratisch im heutigen Verständnis wurden die Parlamente erst in dem Maße, indem es Arbeiterbewegung, Radikaldemokraten, Abolitionisten und Suffragetten gelang, das Wahlrecht von wenigen Privilegierten auf alle Staatsbürger zu erweitern und neben der Straße und den Betrieben auch die Parlamente als Foren zu nutzen, um für die Rechte der bis dahin Unterprivilegierten zu streiten. Ihnen ging es dabei nicht vorrangig um eine »Qualitätsverbesserung politischer Entscheidungen«, die Münkler dem Parlamentarismus auf die Habenseite schreibt, sondern um konkrete soziale Verbesserungen. Seitdem gelten parlamentarische Demokratien als Einrichtungen pluralistischer Gesellschaften, die in der Lage sind, die gegensätzlichen Interessen einer Gesellschaft zu repräsentieren und die aus ihrem Gegensatz resultierenden Konflikte in einer friedlichen Form auszutragen.“
Scheindemokratie einerseits, Demokratieabbau andererseits. Das Buch zum Thema von Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung oder Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus
Neue Kleine Bibliothek 168, 143 Seiten, EUR 11,90, ISBN 978-3-89438-470-8

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